KünstlerInnen, KunstpädagogInnen, AktivistenInnen, WissenschaftlerInnen, AutorInnen, StudentInnen und PraktikerInnen verschiedner Disziplinen
trafen sich im August 2022 im Pavillon 1 Hansa-Haus, Kassel, Kurt-Schumacher-Straße 25, während der documenta fifteen.
Schwarm21 ist eine freie Künstler-Initiative, nicht gesponsert, nicht institutionell gefördert, unzensiert und selbstorganisiert.

Radiobeitrag über Schwarm21 auf HR2 Kultur

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Der Pavillon am Hansa-Haus war im August 2022 Workshop- und Ausstellungsraum und bis Ende November Schaufenster von Schwarm21-KünstlerInnen.

Die Mitwirkenden sind Künstler*Innen, Kunstpädagogen*Innen und Wissenschaftler*Innen anderer Fachgebiete wie Literaturwissenschaft und Medizin und haben Kenntnisse in z.B. Musik, Web-Design, Gartenbau, IT, Ernährung, Tanz etc. die über ihre berufliche Qualifikation hinausgehen.

Die Gemeinsamkeit der Gruppenmitglieder ist die Einsicht, dass es bei der künstlerischen Praxis nach wie vor um die Schaffung von Bildern (auch Skulptur, Raum, Video) geht und die HALTUNG, die die Künstler*Innen bei Beobachtung, Interpretation und Erfindung einnehmen, die ausschlaggebende Rolle spielt.

Wir sehen außerdem, dass Kunst in Beziehungszusammenhängen entsteht, die das Ergebnis entscheidend beeinflussen. Die Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten, also den Künstler*Innen und jenen, die Kunst lehren, kaufen und verkaufen, kuratieren, in Auftrag geben, sammeln oder einfach nur betrachten, ist mit entscheidend.

Die Gruppe Schwarm21 hat sich zusammengefunden, um sich der Neudefinition, Produktion und Vermittlung von bildender Kunst im 21. Jahrhundert zu widmen.

Unsere Vorstellung von Kunst ist, dass Gestaltungsaufgaben mit Hingabe aufgenommen und dem Ziel verfolgt werden, zur POETISCHEN FORM zu werden. So wir das Werk zum Kunstwerk.

Politik, Wirtschaft und gesellschaftliche Interessengemeinschaften arbeiten im Gegensatz dazu an der Realisierung ihrer Ziele unter der vornehmlichen Berücksichtigung der Funktion und erst zweitrangig der Gestalt. Ein Umstand, der die Welt nicht schöner macht, aber vermeintlich funktionieren lässt. Diese gefährliche Entwicklung, der viele Künstler im 20. Jahrhundert gefolgt sind, begann in der Fehldeutung von Louis Sullivans Lehrsatz „form follows function“. Eine Erkenntnis, die in Naturgesetzen gleichermaßen, wie in Industrieprodukten Anwendung findet. Sullivans Glaubenssatz wurde jedoch in der Regel zur Durchsetzung ökonomischer Prinzipien missbraucht, auch wenn die damit verbundenen Konsequenzen für fast alle Beteiligten eine Zumutung und Diskriminierung bedeutete.

 

Schönes sehen und erleben, ermöglicht das Gestalten und Entwickeln ... von Ideen zu Modellen und Erschaffen von Schönem.

Wir sind sicher, durch Kunst können wir lernen die Wirklichkeit zu deuten und uns dem „Wahren, Schönen und Guten“ zu nähern.


Kunst kann helfen, Menschen aus der passiven Rolle der Konsumenten kommerzieller und medialer Ausbeutung und Gewalt zu befreien, in dem sie aktives Gestalten und Formen erlernen.

Mehrere informelle Treffen in Kassel und die Teilnahme an den Online-Veranstaltungen „Lumbung Calling“, haben uns überzeugt, dass die Kuratoren der Documenta 15, Ruangrupa, zeigen werden, wie die bildende Kunst tiefgreifender ins gesellschaftliche und politische Leben wirken kann. Das hat uns begeistert und angeregt, unsere Standpunkte in den Diskurs einzubringen.

 

Schwarm21-Pavillon am Hansa-Haus Kassel N.A.Nessler, Iswanto Hartono im Ruruhaus, Juli 2021 (Foto: G.Böhm)

Es soll ein neuer eigenständiger Begriff der Schönheit entwickelt werden,
losgelöst von den Gesetzen des Marktes und institutioneller Deutungshoheit.

Aufgaben
In Anbetracht einer mentalen und sozialen Verarmung unter Kindern und Jugendlichen, die sich in Folge der Pandemie (soziale Netzwerke, Smartphone, Spielesucht) verschlimmert hat, sehen wir in der Kunst Chancen zur Bewältigung mentaler und sozialer Krisen.
Diese Chance sehen wir auch im Hinblick auf gesellschaftliche Gruppen, zwischen denen sich die Gräben vertieft und die Ausgrenzung Benachteiligter intensiviert haben.
Neue Möglichkeiten der Artikulation und der Verständigung in multikulturellen Gesellschaften sowie Unterstützung von Heilungsprozessen und der Neuorientierung sozialer Gefüge werden durch die vielfältigen Ausdrucksformen der bildenden Kunst gefördert.
   

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Kunst ist eine der Säulen jeder Kultur.
Darauf müssen sich alle, die Identität und Identifikation suchen, stützen können.

Strömungsenergie
Die bildende Kunst folgte in den vergangenen Jahrzehnten Strömungen, die häufig wie technische Innovationen wahrgenommen werden. Trotz einer hinlänglichen Analyse befürchten wir, dass die Kunstvermittlung und der - unterricht den Bezug zu fundamentalen Inhalten verlieren könnte.

Die neuen vielfältigen Möglichkeiten des Entwerfens, Gestaltens und Publizierens eröffnen schon jetzt zahllosen Menschen ungeahnte Möglichkeiten. Eine kommunikative oder gestalterische Kompetenz bleibt dabei unbeachtet oder unterdrückt.

Performance, vielfältige Formen raumbezogener Arbeiten, Anleihen aus Musik, Drama und Literatur sowie ausgiebige Experimente in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen hat bereits in den 70er Jahren neue Regionen für die bildende Kunst eröffnet.

Das Imitieren von Wirtschaftsunternehmen und das Intervenieren in politischen und sozialen Bereichen, dürfte Beuys‘ erweiterten Kunstbegriff heute sprengen.

Computer gestütztes Design, KI-generierte Programme und NFTs eröffnen nun virtuelle Sphären, deren Wirkung ebenso wenig zu prognostizieren sind, wie ihre Grenzen.

Die Nutzung von Neuen Medien hat bereits unumkehrbare Entwicklungen in Gang gesetzt, die massenhafte Nutzung neuester Informationstechnologie ist zum Standard geworden.
Jeder Besitzer eines netzfähigen Endgeräts (Tablet/Smartphone/Computer) kann Produzent und Verbreiter von Informationen (auch Fake News/Manipulationen) werden.


Wenn Wirklichkeit als Bild inszeniert und das Bild für Realität gehalten wird, löst sich unser Begriff von Wahrheit auf.

Über Jahrtausende ließen sich Künstler*Innen dazu gebrauchen „Wirklichkeit“ durch Bilder zu schaffen. Die überzeugendsten Darstellungen dienten dazu, Narrative zu „beweisen“ und das, was vermittelt und verankert werden sollte, in den Mantel der Schönheit zu kleiden, besonders, wenn die Realität ungenießbar war.
Die Artefakte und ihre Schöpfer werden ungeachtet der ethischen Hintergründe für ihr bildnerisches Können und Wirksamkeit als kulturelle Höhepunkte gefeiert. Die Praxis (das Handwerk), die zur Anwendung kam, verdichtete sich zu dem, was wir heute als bildende Kunst bezeichnen, und was wir unseren Kindern als Kulturtechnik vermitteln (malen, zeichnen, fotografieren etc.). Dass unsere Kinder zunehmend unter den Druck der Informations-Technologie geraten und zu Trigger-Objeken automatisierter Dialogsysteme werden, die nur noch vorgefertigte Handlungsmuster an Smartphones und Tabletts ausführen, ohne diese kontrollieren zu können, ist nur eine von vielen Folgen.

Schwarm21-Pavillon Kassel

Dass sie in der Masse zu willigen Konsumenten formatiert werden, bemerken dabei viele.
Wir müssen aber eine Strategie entwickeln, diese Entwicklung zum Vorteil der Nutzer zu wenden.

Projizieren wir diesen Aspekt der Bildkultur in das 21. Jahrhundert, so ist die potenzierte Vervielfältigung und Wirkung durch die Medien sicher, die Folgen hingegen sind nicht abzuschätzen.
Betreiber von Plattformen sowie staatliche Institution, bestimmen über Inhalte und Verbreitung von Informationen und Wahrheit.
Dies geschieht zum Guten wie zum Schlechten, in jedem Fall aber zum Vorteil der Betreiber. Die Produktion von technischen Bildern (Fotos + Videos) erreichte im Jahr 2021 die Zahl von 1,2 Billionen, das sind 1.200 Millarden.

Diese Bilderflut hat bei allen Nutzern tiefgreifenden Einfluss
auf Befindlichkeit, Mentalität und Identität.

Die bildende Kunst schafft Möglichkeiten, sich der Flut von Einflüssen bewusst zu werden und kann Strategien entwickeln, diese mit ästhetischer Kompetenz zu lenken oder ihnen zu entgehen, also unabhängiger zu werden und mittels autonomer gestalteter Wirklichkeit entgegenzuwirken.

Die Aufgaben der Kunstvermittlung und Kunstpädagogik haben sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Damit allerdings auch die Möglichkeiten. Gestaltung ist nicht mehr auf das Konzept beschränkt, sondern die Wirklichkeit, Lebensumstände, Wirtschaft und Politik verlangen danach, denn sie sind wieder einmal an ihren Grenzen konventioneller Handlungsmuster angekommen. Themenfelder vergrößern sich und werden schwerer überschaubar. Durch die grenzenlose Verbreitung von Bildern und einer fehlenden "Grammatik" gehen wir einer gigantischen Sprachverwirrung entgegen, die in schöpferische Bahnen gelenkt werden muss. Damit sich das Wesen der Kunst, nämlich kreativ zu wirken, entfalten kann und Chaos, Leid und Zerstörung verhindert werden.

Fotografie, Lebenswelt, drinnen und draussen Schülerin bei Näharbeiten

Eine Ästhetik ohne Ethik ist wertlos.

Notwendig erscheint uns, die Erschließung von Wissens- und Arbeitsbereichen, die bisher der Peripherie zugeordnet wurden:

- Individuelle Befindlichkeiten (Prägung, soziales Umfeld, individueller Entwicklung, Tagesform, ...)
- Bezüge zu Gemeinschaften (Wege und Möglichkeiten im Streben nach sozialer Einbindung)
- Anbindung an demokratische Strukturen, die die Beteiligung an Entscheidungen und Schaffung von Öffentlichkeit eröffnen
- Artikulationsformen, die persönliche und kollektive Bedürfnisse wirksam zum Ausdruck bringen
- der Entwicklung einer (digitalen) Bildkultur, bei Kindern und Jugendlichen, mit dem Fokus auf kommunikative Kompetenz.
- die Entwicklung wertvoller Alternativen zur bisherigen ästhetischen Praxis

Stadtraum erkunden

Freude und Sinn in der Gestaltung des Lebens,
der Arbeit und Freizeit durch und mit Kunst.

Es sollen Methoden entwickelt und dokumentiert werden, die die bisherigen Techniken des Kunstunterrichts erweitern und bereichern. Dabei können die Terrains anderer Wissens-, Forschungs- und Lehrgebiete unbefangen, spielerisch und experimentell erkundet werden. Wissenschaft braucht zur Weiterentwicklung auch spielerische ungerichtete Kreativität. Darin liegt die fundamentale Verbindung zur Kunst.

Ästhetik muss als Schulung von Wahrnehmung und Bewertung des Sichtbaren in die Curricula festgeschrieben werden. Gestaltung, Entwurf, Konzeption, Formgebung und Pflege aller Lebensbereiche sollten im Zentrum der Kunstpädagogik stehen.

AMAZONAS - analytischer und poetischer Strukturalismus im ruruHaus, documenta fifteen, Kassel 2022. PLANTATION - Fare well, Kurt-Schumacher-Straße, November 2022 Kassel

 

 
Steffi Barthel, Jennifer Baumgärtel, Prof. Ricardo Bezerra, Gabriele Böhm, Francisco Klinger Carvalho, Nandu Johannes Kriesche, Nikolaus A. Nessler M.A., Lydia Ried, Alexander Merian Winn sind Schwarm21
Frankfurt am Main im Mai 2022